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Wenn dich dein Kind morgen fragt (5. Mose 6,20 – 25). Predigt von Jutta Höcht-Stöhr

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„Suchet der Stadt Bestes!“ Gottesdienstreihe in der Christuskirche München-Neuhausen-Nymphenburg.

Der Satz unserer Zeit

Liebe Gemeinde, liebe Gäste in der Christuskirche,

Als ich gefragt wurde, ob ich diesen Gottesdienst übernehmen möchte, habe ich das sehr gern getan.  Es war ganz spontan das Thema, das mich eingenommen hat: das Gesamtthema Ihrer Gottesdienstreihe „Suchet der Stadt Bestes!“. Und das besondere Thema des heutigen Sonntags: „Wenn dein Kind dich morgen fragt“.

Denn dieser Satz löst Assoziationen aus. Er weckt die Erinnerung an die Frage, mit der – nicht gleich nach 1945 – aber dann ab 1968 die damals Jungen ihre Eltern konfrontierten: „Wie konntet Ihr das zulassen?“. Er erinnert an unsere Fragen an unsere Väter und Mütter: „Was habt ihr gewusst?“, „Was habt ihr damals getan?“, „Warum habt ihr nicht früher, nicht stärker Widerstand geleistet?“. Er erinnert in München an die Weiße Rose, deren Flugblätter noch heute in Keramik in den Boden vor der Ludwig-Maximilians-Universität eingelassen sind. Wie zufällig heruntergefallen oder wie auf der Flucht verloren.

„Wenn dein Kind dich morgen fragt“ – das war einst unsere eigene Rolle. Heute aber sind wir die, die Verantwortung tragen für die Dinge, wie sie sind. Und Verantwortung heißt: wir müssen Antwort geben. Rede und Antwort stehen. Vor wem? Dem Text nach vor den kommenden Generationen. Und die Kinder fragen, sie fragen heute wirklich.

Lange dachten wir – und haben auch darüber geklagt – dass unsere Kinder nicht mehr fragen: Nicht nach Politik, nicht nach gesellschaftlicher Verantwortung. Dass sie in Chats und Social Media und Computerspielen dieser Welt entgleiten. Doch auf einmal waren sie da: nicht virtuell, sondern höchst real: auf unseren Straßen, vor den Parlamenten, im öffentlichen Raum.

Erst ein Jahr ist der Schulstreik alt, den Greta Thunberg am Anfang ganz allein Freitag für Freitag vor dem schwedischen Parlament durchzog. Ein Jahr später ist eine weltweite Jugendbewegung daraus geworden. Die Bewegung „Fridays for Future“ fragt uns – nicht erst morgen, sondern schon heute im laufenden Prozess: „How dare you?“ –  „Wie könnt Ihr das zulassen?“, „Ihr könnt alles wissen. Die Fakten der Wissenschaft liegen auf dem Tisch.“ „Wann endlich tut ihr etwas? Es ist fast zu spät. Der Tipping Point, an dem das Erdklima irreversibel kippt, ist nahe“. Es sind fast prophetische Töne, die uns da entgegen kommen. 

Doch dies ist nicht die einzige Frage, die unsere Kinder – nicht erst morgen, sondern schon heute – an uns stellen: Die andere Frage ist die nach dem anderen ungelösten Thema unserer Zeit: Nach Flucht und Migration, nach Krieg und Schutzsuche, nach riskanten Überfahrten und nach den vielen Toten im Mittelmeer. Jugendliche chartern Schiffe und fahren selbst aufs Mittelmeer, um wenigstens einige zu retten. Wenigstens symbolisch. Und um Präsenz zu zeigen, damit das Thema nicht aus unseren Medien  und aus unserer Wahrnehmung verschwindet. Sie nehmen in Kauf, festgenommen und kriminalisiert zu werden. Sie sind unversöhnlich und nicht kompromissbereit. Sie tun etwas, wo sich die gesamte Europäische Union mit ihren Rettungsprogrammen zurückgezogen hat.

Und sie gehen auch auf unsere Straßen, um ein deutliches Zeichen gegen die wachsende Fremdenfeindlichkeit und Unmenschlichkeit zu setzen. Die Initiative „#unteilbar“ hat seit dem Herbst 2018 viele Demonstrationen der Solidarität auf Deutschlands Straßen gebracht. Zuletzt am 13. Oktober in Berlin nach dem rechtsextremistischen Anschlag auf die Synagoge in Halle. Sie sagen: 

„Wir lassen nicht zu, dass Sozialstaat, Flucht und Migration gegeneinander ausgespielt werden. Wir halten dagegen, wenn Grund- und Freiheitsrechte weiter eingeschränkt werden sollen. Unsere Vielfalt ist unsere Stärke. Wir stehen #unteilbar für Gleichheit und soziale Rechte.
Eine Politik, die auf grenzenloses Wachstum und maximale Gewinne setzt, erzeugt massive soziale Ungleichheit und zerstört die Natur. Sie bereitet den Weg für autoritäre Lösungen und das Erstarken völkischer Parteien.
Die Wahlen im Jahr 2019 sind eine Nagelprobe für die Demokratie. Machen wir gemeinsam eine andere, eine offene und solidarische Gesellschaft sichtbar! Ergreifen wir die Initiative!“

Alle Themen unserer Zeit werden hier #unteilbar zusammengedacht. Wenn dein Kind dich morgen fragt? Nein, sie fragen heute. Längst fragt die nächste Generation. Es ist eine Bewegung, die die Qualität von 1968 angenommen hat.

Es hat seine Zeit gedauert bis unsere Kinder, die Digital Natives, die mit dem Internet Aufgewachsenen ihren Weg gefunden haben. Aber jetzt ist er klar: es ist – wie das Netz, durch das sie ihre Informationen haben –  ein globaler Weg, ein Weg globaler Vernetzung und Verantwortung.

Was ich Ihnen bisher gesagt habe, waren die Assoziationen, die allein der Satz, mit dem dieser Gottesdienst angekündigt ist, in mir ausgelöst hat. Es ist der Satz unserer Zeit.

… und ein Satz aus dem Deuteronomium 

Es ist aber auch – und das macht die Spannung aus – ein Satz aus der Bibel. Aus dem 5. Buch Mose der Hebräischen Bibel und des christlichen Alten Testaments. Und jede Predigt lebt davon, dass wir nicht nur unsere Zeit in Gedanken fassen, sondern sie konfrontieren mit den Ursprungstexten unseres Glaubens. Jede Predigt ist ein Zwischen: ein Pendeln zwischen den Texten unserer Zeit – den Zeitungstexten, den literarischen Texten, den Theatertexten, den Internettexten – und den Texten der Bibel. Damit sich beide an einander erschließen. 

Hören Sie daher als Predigttext den biblischen Text und Kontext des heutigen Satzes:

Wenn dich dein Kind morgen fragt: Was sind das für Gebote und Rechte, die euch der Herr, unser Gott, geboten hat? so sollst du deinem Kind sagen: Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der Herr führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand. Und der HERR tat große Zeichen und Wunder an Ägypten und am Pharao und an seinem ganzen Hause vor unsern Augen.

Und der Herr hat uns geboten, nach all diesen Rechten zu tun, dass wir den HERRN, unsern Gott, fürchten, auf dass es uns wohl gehe allezeit und er uns am Leben erhalte, so wie es heute ist. Und das wird unsere Gerechtigkeit sein, dass wir alle diese Gebote tun und halten vor dem Herrn, unserm Gott, wie er uns geboten hat.

Dieser Text ist, nach der Einleitung und nach den ersten Assoziationen, die ich genannt habe, überraschend. Denn hier fragen die Kinder nicht: „Warum habt ihr dies und jenes zugelassen?“ Vielmehr fragen sie etwas Positives: Was sind das für Gebote und Rechte, die euch der Herr, unser Gott, geboten hat?

Sie fragen danach, woher die Ethik und das Recht kommen, die das Volk Israel prägen. Das ganze 5. Buch Mose, das griechisch-lateinisch den Namen trägt „Deuteronomium“, „Zweites Gesetz“ ist eine Reflexion auf die Bedeutung von Recht und Ethik für ein Gemeinwesen. Nachdem im 2.-4. Buch Mose  Gott am Sinai dem Volk Israel erstmals das Gesetz verkündet hat, ist das 5. Buch Mose, das Deuteronomium, eine Reflexion aus späterer Zeit, was Recht und Ethik für ein Gemeinwesen bedeuten. 

Die jüdische Tradition ist in erster Linie eine Tradition des Lernens. Ein Weitergeben und ein Verstehen der biblischen Texte, des Gesetzes und der Propheten. Ein Studieren und Infragestellen und ein unabschließbarer Diskurs. Es gibt kein Lehramt, das irgendwann den Glaubensbestand festschreibt und die Diskussion stillstellt. Das Wesen des Judentums ist, dass immer weitergefragt wird und aus den Widersprüchen Gewinn gezogen wird.

Und in diesem Kontext fragen die Kinder: Was sind das für Gebote und Rechte, die wir da haben? Warum haben sie einen so hohen Stellenwert? Und die Reflexion des Deuteronomiums gibt zwei Begründungen: Eine Begründung aus der eigenen Geschichte und Herkunft. Und eine Begründung aus der Zukunft.

Erinnerung, Recht und Ethik als Garanten der Zukunft

Die Erinnerung an die eigene Geschichte und Herkunft lautet: Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der Herr führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand.

Das Volk Israel ist hervorgegangen aus einer Befreiungsgeschichte. Einer Befreiung aus Unfreiheit und Rechtlosigkeit. Und diese Befreiungsgeschichte ist die Grundlegung  für die Existenz als eigenes Volk. Diese freie Existenz aber soll auf Ethik, Recht und Gerechtigkeit gegründet werden. Darum die Gebote und Gesetze, die Thora ganz am Anfang der Bibel.

Die Begründung aus der Zukunft ist beschrieben in den Worten: Und der Herr hat uns geboten, nach all diesen Rechten zu tun, … auf dass es uns wohl gehe allezeit und er uns am Leben erhalte, so wie es heute ist.

Das Ziel von Geboten und Gesetzen, von Ethik und Recht ist allein, dass es allen im Volk und im Gemeinwesen gut geht und sie leben können.

Wenn die Kinder morgen fragen, sollen sie diese beiden Antworten bekommen:

Wir halten die Gebote und Gesetze aus der Erinnerung an unsere Geschichte heraus und damit es uns in Zukunft gut geht – wie es heute der Fall ist.

Auch wir in Deutschland und Europa, ja in den Vereinten Nationen haben uns Rechte und Gesetze gegeben, die aus diesen beiden Begründungen stammen: den Lehren aus der Vergangenheit und der Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft.

Unsere Lehren aus der Vergangenheit waren, dass wir dem Nationalsozialismus, dem Faschismus und dem Stalinismus entronnen sind, dass wir als Deutsche 1945 von außen befreit wurden aus der Gefangenschaft eines völkischen Wahns. Und die Weltgesellschaft aus der Vernichtung des 2. Weltkrieg. Und dass der weitgehende Konsens danach war: „Nie wieder!“ Das verpflichtet uns heute wie damals.

Und unsere Hoffnung für die Zukunft? Sie kann nicht mehr nur das eigene Volk einbeziehen, sondern muss universal gedacht werden. Denn unser Planet ist die gemeinsame Heimat aller geworden. Menschen an gegensätzlichen Enden der Erde können über das Internet ohne Zeitverzögerung verbunden werden. Und unsere Eingriffstiefe in die Natur seit der industriellen Revolution macht die Folgen unseres Handelns global.

Was also ist unsere Verantwortung heute? Wie kann es geschehen, dass wir nicht nur als Volk, sondern als Zivilisation überleben und dass es uns vielleicht sogar wohl ergehe?

Leben in komplexen Verhältnissen

An dieser Stelle werden die Dinge kompliziert, das wissen wir alle. Weil sie komplex sind, weil vieles mit vielem zusammenhängt und weil alles Handeln Nebeneffekte erzeugt, die wir nicht mitgerechnet hatten. 

Wie kann man die ökologische Wende schaffen, ohne den Rechtsruck in der Bevölkerung zu riskieren. Anders als wir es letzten Sonntag in Thüringen gesehen haben, wo die Grünen und die politische Mitte schrumpfen und die Rechtspartei ihre Stimmen verdoppelt hat.

Und was ist unser Auftrag als Kirche, wenn die EKD mit dem Ratspräsidenten und Bayerischen Bischof Heinrich Bedford-Strohm an der Spitze ein eigenes Rettungsschiff ins Mittelmeer schickt, aber der Berliner Theologieprofessor Richard Schröder zu den schärfsten Kritikern der privaten Seenotrettung gehört? Während die Katholische Kirche sich entschließt, kein eigenes Schiff zu entsenden, aber andere private Rettungsschiffe finanziell unterstützt.

Und wie soll es weitergehen, wenn schon der Kabarettist Bruno Jonas am letzten Sonntag in der Süddeutschen Zeitung eine Klimadebatten-Satire veröffentlicht und warnt, die Klimawandel-Bewegung nehme fundamentalistische und autoritäre Züge an? Seine Schlusspassage lautet: „Mit diesen Maßnahmen könnte Deutschland vielleicht schon bis 2020 klimaneutral sein. Wir schaffen das! Auf diesen aufmunternden Satz warten nun alle. Schließlich haben wir ja schon Erfahrung mit dem Aussetzen demokratischer Verfahren: der Atomausstieg nach Fukushima, die Rettung systemrelevanter Banken in der Finanzkrise 2008, die Aussetzung der Wehrpflicht, ging alles mehr oder weniger Holterdipolter am Parlament vorbei. Wenn es also nicht anders geht, muss die Demokratie auch mal Pause machen. Das Undemokratische gehört substantiell zur Demokratie dazu. Wir können das!“ So Bruno Jonas.

Doch darf man so den Druck aus der ethischen Dringlichkeit nehmen? Und gleichzeitig die demokratischen Verfahren in Zweifel ziehen?

Was sind die Entscheidungen, die uns wirklich weiter bringen, und auf welcher Ebene müssen sie gefällt werden? Welche Ambivalenzen tun sich auf, mit denen wir umgehen müssen? Das kann nicht von der Kanzel verkündet werden. Das müssen wir zusammen diskutieren. Und genau dafür hat die Evangelische Kirche nach 1945 ja ihre Evangelischen Akademien geschaffen. Um komplexe Sachverhalte im offenen Austausch abzuwägen. Auch diese Akademien sind aus der Lernerfahrung des Versagens der Kirchen im Nationalsozialismus entstanden.

 Und die Frage, bei der es keinen Kompromiss gibt

Zumindest eine Frage aber ist frei von dieser Ambivalenz: Es gibt keine Ambivalenz und keinen Kompromiss in der Frage, dass wir für ein sicheres und freies jüdisches Leben in unserem Land sorgen müssen. Alle und auf allen Ebenen von Alltagskommunikation bis Strafrecht und Polizeischutz. Und dass sich dieser Schutz heute auf alle Menschen, die durch Migration in unser Land gekommen sind, erstrecken muss.

Das NS-Dokumentationszentrum hat unter seiner wunderbaren Leiterin Mirjam Zadoff derzeit noch eine Ausstellung laufen: „Die Stadt ohne. Juden, Ausländer, Muslime, Flüchtlinge“. Gehen Sie unbedingt hin. Sie läuft noch eine Woche bis 10. November. Der Titel stammt von dem Film „Die Stadt ohne Juden“ von 1924. Kaum jemand kennt diesen Film, der nach dem Roman des jüdischen Autors Hugo Bettauer von 1922 gedreht ist. In dieser Stadt werden die Juden vertrieben, weil man ihnen alle Übel dieser Welt zuschreibt. Doch als sie weg sind, wird das Leben in dieser Stadt trostlos und unerträglich, und man beschließt, die Juden zurück zu holen.

Die Ausstellung im NS-Dokumentationszentrum erweitert diesen Gedanken: Sie schließt „Juden, Ausländer, Muslime, Flüchtlinge“ zusammen. Sie zeigt, wie die Mechanismen der Ausgrenzung bei allen nach gleichem Muster verlaufen. Und ihre Botschaft ist, dass ohne sie alle unsere Stadt heute nicht lebenswert wäre.

„Wenn dein Kind dich morgen fragt“ – dieser biblische Satz ruft uns in die Gegenwart, in der allein wir handeln können, in die Erinnerung und Verpflichtung aus unserer Geschichte und in den Einsatz für Ethik, Recht und Gerechtigkeit um einer offenen Zukunft willen.

3. November 2019,  Jutta Höcht-Stöhr, Leiterin der Evangelischen Stadtakademie München.

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