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„There is a crack in everything. That’s how the light gets in“ (Leonard Cohen) – Predigt zum 4. Advent

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Heute ist der kürzeste Tag und die längste Nacht des Jahres auf der Nordhalbkugel der Erde. Ab morgen werden die Tage wieder länger und die Sonne steigt wieder höher. Wir können ganz sicher sein und uns freuen auf das zunehmende Licht. Im Advent greifen aber zwei Zeiten ineinander: Da ist die natürliche Jahreszeit mit ihren länger werdenden Nächten. Und je länger die Nächte wurden, desto mehr Kerzen haben wir am Adventskranz angezündet, um die Dunkelheit zur überbrücken.

Da ist aber auch die symbolische Zeit. Denn die langen Nächte des Winters stehen auch als Bild für die Dunkelheiten, die über der Erde und der menschlichen Geschichte liegen. Und so sind die Kerzen auch ein Symbol, etwas gegen diese Dunkelheiten unserer Zeit und Geschichte zu tun.

„Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker“

Die Texte, die wir zu Advent lesen, sprechen immer wieder vom Licht als Zeichen der Hoffnung in finsteren Zeiten. Wie es bei Jesaja heißt:

„Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.“ (9,1)

„Mache dich auf, werde licht; denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des HERRN geht auf über dir! Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker; aber über dir geht auf der HERR, und seine Herrlichkeit erscheint über dir.“ (Jesaja 60, 1 und 2)

Diese Texte sprechen alle von Hoffnung, von aufscheinenden Licht und vom Aufgehen Gottes und seiner Gerechtigkeit wie von der aufgehenden Sonne. Doch wie ist es mit unserer Hoffnung, dass so etwas geschehen wird? Dass die Tage nach der längsten Nacht wieder länger werden, das können wir mit Zuverlässigkeit erwarten. Der Lauf der Natur folgt Gesetzen, die sich mit und ohne uns vollziehen. Doch ob in der Finsternis, die das Erdreich bedeckt, und im Dunkel, das über den Völkern liegt, Licht aufscheint, ist kein Naturgesetz. Unser Leben und unsere Geschichte folgen keinen wiederkehrenden Regelmäßigkeiten. Und wir können niemals sagen, ob der Wendepunkt schon erreicht ist, oder ob es noch finsterer wird.

An diesem Adventssamstag hat das britische Parlament dem Brexitvertrag zugestimmt, der zum 31. Januar umgesetzt werden soll. Ist damit die lange Nacht des Wartens und der Unentschiedenheit zuende? Und wir gehen auf eine konstruktive Neugestaltung der Verhältnisse und der Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union zu? Oder wird die Lage eher noch kritischer werden?

An diesem Adventssamstag hat die Bundesregierung ihr Klimaschutzpaket nachgebessert. Alte Energien werden teurer, damit neue billiger werden können. Ist das bereits ein Zeichen der Hoffnung oder viel zu wenig, um einen echten Wandel zu schaffen?

Am Adventssamstag hat der syrische Präsident 400 Bomben auf einen Teil seines Landes abwerfen lassen. 10.000 Menschen haben ihre Städte dort verlassen. Über 70 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht vor unerträglichen Lebensbedingungen. Ob es noch viel mehr werden, weil die Kriegsgebiete im Nahen Osten nicht befriedet werden, und weil der Klimawandel sehr viel mehr heimatlos machen wird, kann keiner absehen.

Der Trost des Jahreskreises hilft hier nicht. Das zunehmende Licht ist nicht erwartbar.

Menschliche Geschichte ist keine Frage der Naturgesetze. Wir können nicht getrost abwarten. Wir spielen selbst eine aktive Rolle darin und fühlen uns doch oft machtlos. Was der Advent in diese Geschichte einbringt, ist, dass wir mit einer Haltung der Hoffnung auf die Dinge zugehen. Mit der Haltung, dass es nicht zwangsläufig schlimmer werden muss, sondern, dass es doch noch besser werden kann.

Solange die Nacht dunkler wird, solange ist es Zeit, immer mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Die Prophetentexte werben mit Worten um diese unsere Haltung. Sie wollen nicht vorhersagen was kommt, sondern hervorsagen, hervorbringen, was kommen soll. Mit Worten wollen sie uns bewegen, auf das wachsende Licht zu setzen und Teil davon zu werden, egal, was vor Augen ist.

Leonard Cohens „Hymne“ auf den Riss in allem

Es gibt ein unglaublich berührendes Adventslied in diesem Sinn. Es steht nicht in der Bibel und nicht im Gesangbuch. Es wurde nicht von Johann Sebastian Bach vertont oder von Paul Gerhardt geschrieben.

Das Lied stammt von dem großen jüdischen Poeten und Sänger Leonard Cohen, der 2016 gestorben ist. Vielleicht kennen sie sein berühmtestes Lied, das „Hallelujah“, oder sein letztes, mit dem er auf seinen Tod vorausschaut „You want it darker, Lord“ – „Du willst es dunkler, Gott“. Unglaublich poetische, spirituelle und nüchterne Lieder. Er war ein dunkler Mystiker, bei dem Heiliges und Profanes eine untrennbare Einheit bilden.

Das Lied, das ich als Adventslied empfinde, ein Lied, das Jüdisches und Christliches verbindet, heißt ganz einfach „Anthem“ zu deutsch „Hymne“. Ein feierlicher Lob- und Preisgesang. Doch was wird in diesem Lied beschrieben? Und worauf wird der Lobpreis gesungen? Der Refrain sagt es:

„Es gibt einen Riss in allem. So kommt das Licht herein.“ – „There is a crack in everything. That’s how the light gets in.”

Eine Hymne auf den Riss in allen Dingen? Was soll das sein? Lassen Sie uns das Lied hören. Den Text haben Sie in Händen.

Text

Einspielung

Dieses Lied bietet eine sehr nüchterne Zeitanalyse: Die Kriege werden weitergehen. Die heilige Taube, die Friedentaube, wird wieder und wieder eingefangen werden. Es gibt Gesetzlosigkeit und es gibt Scheinheiligkeit. Menschen, die töten, sprechen zugleich lauthals Gebete. Die Zeichen sehen nicht gut aus. Sie stehen auf Sturm. Wie die alten Propheten sagt Leonard Cohen auf seine Weise: „Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker“.

Doch woher kommt in diesem Lied die Hoffnung?

Da ist die Botschaft der Vögel bei jedem Tagesanbruch: „Beginne von Neuem“. Jeden Tag sind sie selbstverständlich da. Folge ihrer Botschaft: Fang noch einmal an. Gib nicht auf. Doch dann auch das dringlichere: „Läute die Glocken, die noch läuten können.“  Das klingt weniger süß als im volkstümlichen Weihnachtslied, wo es heißt „Süßer die Glocken nie klingen als zu der Weihnachtszeit, ’s ist, als ob Engelein singen wieder von Frieden und Freud’.“

Bei Leonard Cohen klingt es eher, als ob man Warnglocken läutet, eine Sturmglocke oder eine Glocke als Weckruf: „Läute die Glocken, die noch läuten können.“ Manche Glocken sind vielleicht zerstört. Umso wichtiger ist es, alle die zu läuten, die noch läuten können. Aber diese Glocken sollen nicht nur warnen. Sie werden auch zur Erinnerung daran geläutet, dass sich durch alle Dunkelheit ein Riss zieht, durch den Licht herein kommen kann. Wie jeden Sonntagmorgen, wie vor jedem Gottesdienst, wo sie zur Unterbrechung unserer Routinen rufen.

Keine Finsternis ist so geschlossen, dass nichts mehr durchdringen kann. In jeder dunklen Wirklichkeit, die unausweichlich scheint, gibt es eine Bruchstelle, an der sich die Dinge ändern können. Und wir werden entkommen, wenn auch wie Flüchtlinge.

Das Lied malt keine Utopie aus, keine heilen Verhältnisse. Es singt einen Lobpreis auf so etwas gering Scheinendes wie den Riss im System, der die Dinge wieder öffnet.

Wenn Sie es in traditionelle Adventssprache übersetzen, heißt das vielleicht, wie wir das im Eingangslied gesungen haben: „O Heiland, reiss die Himmel auf“. Oder im anderen , das wir noch singen werden: „Das ewige Licht geht da herein, gibt der Welt ein neuen Schein. Es leucht‘ wohl mitten in der Nacht“.

Die Welt ist noch da. Die Dunkelheit ist noch da. Aber durch einen Riss im System kommt Licht herein.

Dieser Riss ist Leonard Cohen eine Hymne wert. Denn dieser Riss ändert alles.
Kann man sich das konkret vorstellen? Lassen Sie es mich versuchen.

180 Grad. Geschichten gegen den Hass

Wenn ich Ihnen in diesem Jahr ein Buch zu Advent und Weihnachten empfehlen würde, wäre es das Buch „180 Grad. Geschichten gegen den Hass“. Geschrieben hat es der ZEIT-Journalist Bastian Berbner. Er erzählt von Menschen, die ihre Vorurteile überwunden haben. Und zwar tief sitzende Vorurteile über andere Menschengruppen. Niemand von ihnen hat sich darum bemüht. Keiner war Teil eines pädagogischen Programms. Sondern lebensgeschichtlich durch einen Zufall, ein Zusammentreffen, sind sie auf Menschen der anderen Gruppe gestoßen, und ihr wasserdichtes System der vorgefassten Meinungen bekam einen Riss.

Da gibt es den irischen Briefträger Finnbar O‘Brien. 2012 wagt die irische Regierung ein Experiment. Wie auch in anderen Ländern Europas macht sich Demokratiemüdigkeit breit, Aversionen gegen Politiker und Eliten. Und statt die Kritiker zu ignorieren, beruft die irische Regierung ein beratendes Gremium ein, das über ein Jahr hin grundlegende Fragen der Politik diskutieren und Empfehlungen für das Parlament abgeben soll. Z.B. über Änderungen des Wahlrechts, die Abschaffung des Senats oder: die Legalisierung der Homo-Ehe, im katholischen Irland eine der umstrittensten Fragen überhaupt. Das Besondere an diesem Experiment: Dieses Beratungsgremium ist kein Expertengremium. Es ist eine repräsentativ ausgewählte und doch zufällige Vertretung der irischen Bevölkerung. Finnbar ist einer von ihnen. Er hat große Aversionen gegen Homosexuelle. Der Grund: als Kind wurde er von einem Freund seiner Eltern regelmäßig missbraucht. Diese Pädophilie, der Missbrauch von Kindern, war für ihn dasselbe wie Homosexualität. Er hat nie unterschieden. Als er zum ersten Treffen des Beratungsgremiums in Dublin kam, saß an seinem Tisch ein junger Mann, der gepierct war, und deutlich homosexuell stilisiert. Er war der erste, dem Finnbar dort begegnete. Chris, so hieß der Mann, war damals drauf und dran, nach Kanada auszuwandern, um volle Rechte als Homosexueller zu bekommen, die er sich in Irland nicht mehr erhoffte. Er wollte heiraten, Kinder adoptieren, eine Familie gründen können. Diese beiden waren die ersten, die sich in Dublin begegneten. Finnbar geriet in Panik.

Dann kam die Vorstellungsrunde am Tisch. Finnbar wusste überhaupt nicht, was ihn qualifizieren sollte, in so einem Gremium mitzuentscheiden. Er war ein einfacher Briefträger ohne höhere Bildung und politische Erfahrung. Doch als die Vorstellungsrunde begann, sagte der junge Homosexuelle, dass er nicht wisse, ob er hierher gehöre, und dass er sich extrem unwohl fühle. Und bei diesen Worten fühlte Finnbar plötzlich eine große Nähe zu dem jungen Mann: der sprach genau aus, was auch er fühlte. Die Abschottung hatte einen ersten Riss bekommen.

Später verbringen die beiden die Teepause zusammen, sie trinken ein Bier an der Bar und teilen die freie Zeit während der Aufenthalte in Dublin. Finnbar erzählt Chris von seinen Missbrauchserfahrungen und Chris Finnbar von seinen Demütigungen wegen seiner Sexualität. Finnbar begreift, das Homosexualität nichts mit Pädophilie zu tun hat, aber wie jede Beziehung mit der Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Und als am Ende die Versammlung abstimmt, ob sie dem Parlament die Legalisierung Homo-Ehe empfiehlt, ist es Finnbar, der die Rede hält, die dem „Ja“ mit zum Durchbruch verhilft.

Die beiden haben diese Begegnung nicht gesucht, sie hätten unter normalen Bedingungen nie miteinander gesprochen, geschweige denn, sich von ihren Erfahrungen erzählt, die sie fast zerstört hätten. Es war der Zufall des Zusammentreffens, der den Riss in ihren Welten möglich gemacht hatte.

Geschichten wie diese erzählt das Buch, wo durch reale Konfrontationen die Systeme der Vorurteile und Abschottungen diesen Riss bekamen und die Beteiligten die Dinge neu und in einem anderen Lichte sehen konnten.

Möglich ist das, weil wir aus unseren Teilerfahrungen ein Weltbild bauen, doch dieses Weltbild ist in Wirklichkeit weniger geschlossen ist als es scheint. Wir haben Teilerfahrungen und schließen aufs Ganze, aber: „Du kannst die Teile zusammenzählen, aber du hast damit nicht die Summe“, singt Leonard Cohen. Das Ganze ist immer mehr als die Summe seiner Teile. Wenn unsere Vorstellungswelt, die Wirklichkeit, die wir uns geschaffen haben, brüchig wird, besteht Hoffnung, etwas mehr vom Ganzen zu begreifen.

Auf diesen Riss in allem, der erst dem Licht eine Chance gibt, singt Leonard Cohen seine Hymne.

Adventshoffnung: Der Riss im Himmel

Das Bild vom Riss durchzieht die Adventstexte. „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab“ drängt Jesaja Gott in dunklen Zeiten. „O Heiland, reiß den Himmel auf“, dichtet der Jesuit und Liederdichter Friedrich Spee im Jahr 1622 in seinem Adventslied den Prophetentext nach.

1622, mitten im Dreißigjährigen Krieg, dem Religions- und Konfessionskrieg, der Europa verwüstet hat. Mitten aber auch in der Zeit der Dunkelheit der Hexenprozesse. Friedrich Spee hatte sie einst befürwortet, dann aber als Prozessbeobachter die Brüche im System gesehen. V.a. dass die Anwendung der Folter zur Wahrheit führe, war für ihn undenkbar. In einer anonymen Schrift hat er auf diese Widersprüche im System der Hexenprozesse hingewiesen und wurde zum entscheidenden Wegbereiter ihrer Überwindung.

Da ist es wieder das Motiv, dass genau durch den Riss im System das Licht hereinkommt. Und mit ihm die Möglichkeit zur Umkehr, zur Auferstehung und zur Reue. Nichts ist schlimmer als geschlossene Systeme.

Dass aber nicht nur die menschlichen Verhältnisse, sondern der Himmel selbst einen Riss bekommt, das ist die revolutionäre Vorstellung von Weihnachten. Denn das Adventslied geht weiter: „O Heiland reiß die Himmel auf. Herab, herab vom Himmel lauf. Reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloss und Riegel für.“

Nach den Bildern des Lukasevangeliums tut sich der Himmel über den Feldern von Bethlehem auf, als Jesus geboren wird. Engel steigen hinauf und hinab, wie einst auf der Jakobsleiter. Aber nicht nur sie. Denn in diesem neugeborenen Kind beginnt für Gott selbst etwas Neues. Er selbst beginnt einen für ihn ganz und gar ungewohnten Gang. Er geht gleichsam auf die andere Seite. „Gott wird Mensch dir Mensch zugute. Gottes Kind, das verbindt sich mit unserm Blute“ singen die Weihnachtslieder. Er wird Mensch und erlebt das menschliche Leben am eigenen Leibe.

Heilig und Profan sind seitdem keine getrennten Welten mehr. Und die Tiefe unseres Glaubens zeigt sich nicht in perfekten Opfern, sondern in der Weite und Tiefe unserer Mitmenschlichkeit.

Aber das ist nicht mehr das Thema des Advent, sondern das Thema der Heiligen Nacht, die den Riss im Himmel sichtbar macht. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen heute im Vorgriff: Frohe und gesegnete Weihnachten! Gott kommt uns mehr als entgegen.

Jutta Höcht-Stöhr  I  Predigt in St. Matthäus zum 4. Advent
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