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Mitleid und Struktur. Predigt vor der Wahl

Haende

Zur spontanen Regung des Mitleids, die wir ganz körperlich empfinden, kommt in dieser Geschichte ein Moment der Rationalität. Eine Verbindung mit Recht und Gesetz. Das ist spannend. Zu Markus 1, 35 – 44 (s.u.)


Unübersichtlicher Anfang

Liebe Gemeinde, dies ist die Geschichte von einem turbulenten und unübersichtlichen Anfang. Wir befinden uns noch im ersten Kapitel des Markusevangeliums und in den ersten Tagen des öffentlichen Auftretens Jesu in Kapernaum. Offenbar war es ein Anfang, der ihn überwältigt hat, denn er hatte großes Aufsehen erregt. Mit einer starken Verkündigung in der Synagoge und mit Heilungen, die seinen Ruf schnell verbreiten, so dass am Abend die ganze Stadt vor seiner Tür versammelt ist. Sie bringen alle Kranken zu ihm in der Hoffnung auf Heilung. Die Sache läuft schon nach einem Tag aus dem Ruder. Und er sucht Abstand. Als ich diese Geschichte jetzt in diesen Tagen gelesen habe, hat sie mich in ihrer Dynamik an jene Tage Anfang September vor zwei Jahren erinnert: als in einer Nacht so viele Menschen vor Europas Türen angekommen waren und Einlass und Hilfe suchten. Jene Nacht, in der die Bundeskanzlerin in einer spontanen Reaktion aus Mitgefühl und Verantwortung die Grenzen öffnete und eine Welle ausgelöst hat, die sie so nicht erwartet hatte und die ihr über den Kopf zu wachsen drohte. Genauso unübersichtlich wie damals stelle ich mir die Situation Jesu vor: Da sind die unendlich vielen andrängenden Hilfesuchenden. Da sind seine Jünger, die voll Engagement und Eifer sind und ihn holen wollen, als er sich zurückgezogen hat: Alle suchen dich, sagen sie. Muss er dieser Suche Folge leisten? Was löst er damit aus, wo führt es hin? Es hat ihn überrollt. Er muss erst wiederfinden, wozu er da ist.
Eigentlich will er predigen. Er will verkünden, was er in seiner Taufe gehört hat. Diese grundlegende Zusage Gottes an ihn, aber durch ihn auch an uns: „Du bist mein geliebter Sohn. Ich liebe dich und ich sehe dich voll Wohlgefallen.“ Dieses Wort, das, wenn es uns gilt, unsere tiefste Sehnsucht trifft und uns mit unserem Leben versöhnen kann. Diese Erklärung der Liebe und des Erbarmens Gottes will er unter die Menschen bringen. Aber diese Botschaft entwickelt nicht nur eine spirituelle Dimension, sondern auch eine ganz körperliche. Und darum wird das Evangelium des Angenommenseins von Anfang an von den erzählten Heilungen begleitet. Es geht zugleich um Heilung  an Leib und Seele, um seelisches Heil und um irdisches Wohl.

Neustart

Unser Text setzt an der Stelle ein, wo Jesus versucht, mit dem Hype, der ihn überrascht hat, umzugehen. Es ist wie ein Neustart nach diesem chaotischen Anfang. Unterwegs kommt ein Aussätziger zu ihm und bittet um Hilfe. Der Aussatz ist eine besonders schlimme Krankheit. Denn er gilt als hoch ansteckend und darum mussten die Menschen, die davon befallen waren, außerhalb der menschlichen Gemeinschaft leben. Berühren darf sie niemand mehr. Diese Isolation hat der Krankheit ihren Namen gegeben. Sie sind wirklich Ausgesetzte. Sie haben die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und zum gesellschaftlichen Leben verloren.
Als Jesus ihn sieht, empfindet er tiefes Mitleid. Es ist ein ganz körperliches Wort, das da steht: Man spürt es in den Eingeweiden, im Innersten. Es changiert zwischen Mitleid und Zorn. Jesus fühlt mit dem Aussätzigen und seinem schweren Leid, ausgeschlossen zu sein von allen anderen. Und das Mitleid siegt. Da er es kann, tut er es: Er befreit den Mann von seinem Leiden. – Hat er nichts gelernt von dem Chaos in Kapernaum? Doch, hat er, denn jetzt kommt die spannende Schlussfolgerung, die er daraus gezogen hat. Jesus schärft dem Mann ein, niemandem etwas von der Begegnung zu sagen, sondern zu tun, was das Gesetz vorsieht: zu gehen und sich dem Priester zu zeigen, der allein bestätigen darf und muss, ob ein Aussatz ausgeheilt ist, und dann die Dankopfer und Rituale zu vollziehen, die im 3. Buch Mose vorgeschrieben sind. Das ganze Kapitel 14 dort ist einem stufenweisen Aufnahmeverfahren gewidmet, mit dem Aussätzige wieder in die menschliche Gemeinschaft aufgenommen werden. Dabei geben die einzelnen Schritte immer noch einmal die Möglichkeit zu überprüfen, ob die Heilung wirklich gegeben ist.

Zur spontanen Regung des Mitleids, die wir ganz körperlich empfinden, kommt in dieser Geschichte ein Moment der Rationalität. Eine Verbindung mit Recht und Gesetz. Das ist spannend. 

Oft wird Christen vorgeworfen, sie seien zu emotional bestimmt, zu wenig rational. Gut Gemeintes entstünde so, aber nicht wirklich Gutes. Friedrich Nietzsche war einer der härtesten Kritiker christlicher Gefühle. Er schreibt in seinem Antichrist: „Man nennt das Christentum die Religion des Mitleidens. Das Mitleiden steht im Gegensatz zu den … Affekten, welche die Energie des Lebensgefühls erhöhen; es wirkt depressiv. Man verliert Kraft, wenn man mitleidet… Das Leiden wird durch das Mitleiden ansteckend…“. Er will das Mitleid darum ganz aus dem menschlichen Gefühlskanon verbannen.
Aber das Mitleid oder vielleicht sollte man lieber sagen, das Mitgefühl, das Jesus angesichts das Aussätzigen empfindet, wirkt ja ganz eindeutig anders. Es motiviert seine Kraft und seinen Willen, das, was in seiner Macht steht, gegen das Leid zu tun.
Es ist interessant, dass dieser zweite Anlauf Jesu nach dem ersten stürmischen Tag in Kapernaum genau das Moment der Rationalität zum Mitleid hinzubringt: Jesus lässt sich berühren von seinem Mitgefühl, er lässt sich bewegen zu helfen. Aber er sucht zugleich nach der Struktur, die eine Eskalation wie beim ersten Mal verhindert. Er weist den Kranken an, niemandem etwas zu erzählen, sondern genau das zu tun, was durch das Gesetz des Mose geregelt ist. Die schrittweise Wiederaufnahme des Geheilten in die Gemeinschaft durch die Entscheidung der Priester und die Opfer im Tempel.
Ich mag diese Geschichte, weil sie dies beides verbindet: weil Jesus berührbar bleibt durch das Leiden und das Schicksal des Einzelnen, und weil er doch den Strukturen ihr Recht gibt, die eine Gesellschaft braucht, um kein Chaos und keine Willkür zu produzieren.

Die strukturbildende Kraft des Mitgefühls 

Die Frage ist nur, ob die Strukturen lebensdienlich sind. Ob sie genug Raum lassen für Einzelfälle. Ob sie auch auf neue Herausforderungen eingehen können.
Seit dem Herbst 2015, jenen chaotischen Tagen des ersten Mitgefühls und der Grenzöffnung, hat sich vieles in unserem Land an neuer Struktur des Aufnehmens gebildet. Auf der anderen Seite sind aber auch Strukturen der Abwehr entstanden aus einem Gefühl des Überfordertseins und der Angst.
Das Wichtigste aber: Wir haben angefangen, mehr über die Gründe von Flucht und Migration nachzudenken. Wir sind durch die ankommenden Flüchtlinge unausweichlich mit der Frage konfrontiert worden, wie unsere Lebensweise mit den Lebensmöglichkeiten in anderen Teilen der Erde zusammenhängt. Begonnen hat dieser Zusammenhang mit der Kolonialzeit, als die Staaten Europas aufgebrochen sind in die Neue Welt und nach Afrika und die dortigen Völker unterwarfen. Vielleicht haben Sie in der SZ am Wochenende den Artikel über den europäischen Sklavenhandel gelesen. Von 1450 bis 1880 gab es einen massiven Menschenhandel zwischen Afrika und Westeuropa. Etwa 12,5 Millionen Menschen wurden dabei deportiert und versklavt. Ohne Sklavenhandel gäbe es kein Europa, sagt ein Historiker. V.a. Westeuropa hat davon profitiert. Die Kolonialstaaten sind erst weit nach dem Zweiten Weltkrieg in die Unabhängigkeit entlassen worden. Diese Staaten sind jünger als ich – das ist zwar für einen Menschen nicht mehr so jung, für einen Staat aber schon. Kein Wunder, dass sie zum Großteil noch immer keine funktionierende staatliche Struktur haben. Gibt es hier noch eine historische Schuld, die nicht eingestanden ist? Was müssen wir wirklich denken, wenn wir strukturell denken?
Heute hat der globale Handel enormen Einfluss. Unsere Fischfangflotten, die die Gewässer vor den Küsten Afrikas leerfischen, und die Senegalesen, die zu uns kommen, hängen zusammen. Unser Fleischkonsum und unser Energieverbrauch und die Klimaveränderung in anderen Zonen der Erde hängen zusammen. Wir verstehen also in Ansätzen, was strukturell zu tun wäre. Es ist nicht mehr nur spontanes Mitleid und akute Hilfe für Menschen, die vor unserer Tür stehen. Es ist ein Prozess des Nachdenkens und der politischen Auseinandersetzung geworden. Und dieses Nachdenken hat nicht nur mit den notleidenden Flüchtlingen zu tun. Es hat sehr viel mit uns und unserer Geschichte und Lebensweise zu tun. Mitleid ist viel zu wenig, angesichts der Frage, um die es geht. Brot für die Welt und Misereor, die früher v.a. Nothilfe leisteten, sind deshalb längst dazu übergegangen, Aufklärungsarbeit zu leisten und exemplarische Projekte mit den Menschen zu entwickeln. Viel Erkenntnis ist also gewachsen über die letzten Jahre.
Noch ist allerdings nicht entschieden, ob wir unsere Energie v.a. darauf konzentrieren, die andrängenden Menschen abzuwehren an den Toren Europas, oder ob uns etwa Strukturelles gelingt, das unser Leben und ihr Leben gleichzeitig neu ordnet.
Mitgefühl und Struktur, Mitgefühl und neues Recht müssen ineinandergreifen.
Was wir derzeit im Wahlkampf erleben, ist aber eher die angstgetriebene reflexhafte Abwehr. Kurzfristig fällt uns offenbar nichts anderes ein, als Europas Grenzen soweit wie möglich zu schließen. Dafür arbeiten wir erneut mit Unrechtsregimen zusammen. Das kann keinen Bestand haben. Wir müssen Neues schaffen. Noch sind unsere Lösungen keine.

Aus dem Abstand erkennen, worum es geht 

Heute sehen wir im Rückblick fassungslos, wieviele Staaten sich nach 1933 den aus Deutschland flüchtenden Juden verschlossen haben. Am 23. März 1938 lud US-Präsident Franklin D. Roosevelt 32 Staaten zu einer großen internationalen Auswanderungskonferenz nach Evian in der Schweiz ein. Doch schon wer die Einladung genauer gelesen hat, wusste, dass jede in dieses Treffen gesetzte Hoffnung vergebens war: Von keinem Land, schrieb Roosevelt, werde erwartet, mehr Auswanderer aufzunehmen, als es die derzeitigen Gesetze vorsähen. Da aber zwischen Einladung und Konferenzbeginn mehrere Monate lagen, nahmen einige Staaten dies zum Anlass, rasch noch ihre Einwanderungsbestimmungen zu verschärfen.
Die Konferenz tagte vom 6. bis zum 15. Juli 1938. Und keines der 29 Länder, die der Einladung gefolgt waren, erklärte sich zur Aufnahme einer größeren Anzahl jüdischer Flüchtlinge bereit – die Dominikanische Republik ausgenommen. Der australische Vertreter ließ verlauten, er wolle kein Rassenproblem importieren. Die USA blieben bei ihrer Politik, die Einwanderungsquoten, wie infolge der Weltwirtschaftskrise von 1929 beschlossen, nicht auszuschöpfen.
Hilfe kam auch nach dem 9. November nicht. Empörte Stellungnahmen aus den USA, Schweigen aus Frankreich, keine Korrektur der Einwanderungsquoten. Den meisten Juden, die nach Kriegsbeginn nach Palästina fliehen wollten, blieb nur noch die illegale Einwanderung – teils mitorganisiert von den Nazibehörden, unter anderem unter der Regie von Adolf Eichmann in Wien. Auf oft seeuntüchtigen Schiffen fuhren die Flüchtlinge die Donau hinab und über das Schwarze Meer und versuchten dann, an der britischen Marine vorbei, in Palästina an Land zu gehen. Viele ließen auf der Flucht ihr Leben.
Wie ähnlich die Beschreibungen damals und heute klingen.

Wo unser Mitgefühl nicht die Struktur schafft, schaffen andere Kräfte sie 

Im Rückblick zeigt sich erschreckend deutlich: Wo unser Mitgefühl keine Strukturen schafft, schaffen andere Motive die Struktur. Die genannten Staaten haben damals – wie wir heute – die Abwehr perfektioniert. Das kann man durchaus im psychologischen Sinn verstehen: Wir wehren ab, was uns zuviel wird. Wir blenden es aus, aber es verschwindet dadurch ja nicht.
Die Kirchen haben in unserer Zeit eine alte Institution des Mitgefühls wieder aufgegriffen: das Kirchenasyl. Auch dieses Kirchenasyl hat klare Regeln. Es soll Menschen vor Abschiebung schützen, wo diese zu großen Gefahren für das Leben und die Gesundheit der Betroffenen führen würde. Diese Kirchenasyle schaffen noch keine neue Rechtsordnung. Sie sind Zeichen. Mehr nicht. Aber sie legen den Finger in die Wunde. Sie mahnen unsere Gesellschaft, ihre grundlegenden Werte nicht zu verraten.
Die Frage, die bleibt, ist aber: Wie kann das Mitgefühl verbunden mit einer klugen Analyse unserer Geschichte und Gegenwart wirklich Strukturen bilden? Wie kann eine neue humane Rechtsordnung aussehen? Eine neue humane Welthandelspolitik. Im Wahlkampf jetzt vor der Bundestagswahl kamen diese umfassenden Fragen viel zu kurz. Hier haben v.a. unsere eigenen deutschen Ängste dominiert. Vielleicht kann man mit den großen Fragen, die uns unausweichlich aufgegeben sind, keine Wahlen gewinnen. Aber nach der Wahl muss sich der Blick wieder weiten.

Entscheidungshilfe 

In der Süddeutschen Zeitung von Freitag wurden Künstler und Intellektuelle gefragt, welches Buch sie empfehlen würden, das helfen kann, am nächsten Sonntag eine Wahlentscheidung zu treffen. Am überraschendsten hat die Münchner Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken geantwortet: „Neues Testament: Matthäus 25, 31 – 46 (ist 2000 Jahre alt, aber besser kann man es nicht sagen)“. Es ist das Gleichnis vom Weltgericht, in dem danach unterschieden wird, ob wir mitfühlend gehandelt haben oder nicht. In dem der Weltenrichter sagt: „Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin ein Fremdling gewesen, und ihr habt mich beherbergt. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich bekleidet.“
Dieser Impuls, dieses Kriterium ist dem Christentum tief eingesenkt. Es stark zu machen gegen alle Ängste, das ist unser Erbe und unsere Verantwortung. Dass wir es nicht nur als Einzelne und punktuell, sondern auch in einer Gesamtverantwortung für unsere Rechtsordnung tun, das ist die Zutat des heutigen Evangeliums. Ich würde es daher gerne neben die Geschichte vom Weltgericht stellen.
Markus 1, 35 – 44: In aller Frühe, als es noch dunkel war, stand Jesus auf und ging an einen einsamen Ort, um zu beten. Simon und seine Begleiter eilten ihm nach, und als sie ihn fanden, sagten sie zu ihm: Alle suchen dich. Er antwortete: Lasst uns anderswohin gehen, in die benachbarten Dörfer, damit ich auch dort predige; denn dazu bin ich gekommen. Und er zog durch ganz Galiläa, predigte in den Synagogen und trieb die Dämonen aus. Und ein Aussätziger kam zu Jesus und bat ihn um Hilfe; er fiel vor ihm auf die Knie und sagte: Wenn du willst, kannst du machen, dass ich rein werde. Und Jesus hatte Mitleid mit ihm; er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will es –  werde rein! Im gleichen Augenblick verschwand der Aussatz und der Mann war rein. Und Jesus schickte ihn weg und schärfte ihm ein: Sieh zu, sage niemand etwas davon, sondern geh, zeige dich dem Priester und bring das Reinigungsopfer dar, das Mose angeordnet hat, ihnen zum Zeugnis.

PREDIGT VON JUTTA HÖCHT-STÖHR AM 17.9.2017 IN ST. MATTHÄUS

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