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Hans Maier: Aufstehen für Kultur. Rede bei der Demonstration „Aufstehen für Kultur“ am 24. Oktober 2020 am Königsplatz

Hans Maier

Liebe Kulturschaffende, liebe Freunde der bayerischen Kultur, liebe Kollegen aus der Politik, liebes Publikum!  

Uns alle beschäftigt in diesem Augenblick die Frage: Wie kommen wir unbeschädigt durch diesen  Herbst  und  Winter?  Die Chancen sind unterschiedlich, das zeigt schon ein erster Blick auf die Lage.  

Noch am besten geht es wohl der Wirtschaft, die, allen Unglücksprophezeiungen zum Trotz, nicht so tief abstürzt wie befürchtet und sich rascher erholt als vorausgesagt. Auch die Politik kommt ganz gut durch diesen Herbst und Winter, wobei sich die Gewichte verschoben haben: Corona-Zeiten sind Zeiten der Exekutive, die sich mit raschen Entscheidungen leicht tut, während die Legislative in den ausgeleerten Parlamenten um ihre Vormacht kämpft und die Justiz offenbar nur noch „Nein“ oder „So-nicht“ zu sagen vermag: täglich hören oder lesen wir, das Gericht X habe die Entscheidung Y der Autorität Z „gekippt“. Gewerkschaften, Medien, Sport erleiden in Pandemie-Zeiten zwar Einschränkungen, stehen aber trotz mancher Einbußen nicht vor dem Ruin. Sie gehören zu den Institutionen, die allein schon wegen ihrer Größe „nicht scheitern können“.

Aber wie ist es mit der Kultur?

Sie ist im Augenblick offenbar an einer Schmerzgrenze angelangt. Es ist zu fürchten, dass sie in Zeiten der Pandemie ihre Anziehungskraft, ihre öffentliche Präsenz, ja an manchen Stellen sogar ihre Überlebensfähigkeit verliert. So müssen sich ihre Freunde in der Öffentlichkeit zu Wort melden. Sie müssen zum Aufstand blasen. Und sie tun es heute mit dieser Demonstration am Königsplatz, die an einen königlichen Kulturpolitiker erinnert, an Ludwig I., der mit seinen Festplätzen, Monumenten und Sammlungen das moderne Bayern geprägt hat.

Kultur ist ein wenig organisiertes, ein lockeres und freies Gebilde. Denn sie geschieht spontan und wird von unterschiedlichen Kräften bewegt, von unterschiedlichen Individuen getragen. Auch dort, wo sie sich öffentlich verdichtet – in Theatern, Konzertsälen, Museen, Galerien, in musikalischen Ensembles, Literaturbüros, Buch- und Kunsthandlungen – entscheidet sich das Publikum freiwillig für einen Besuch, es ist dazu nicht verpflichtet, wie es Schüler und Studenten in Schulen und Hochschulen sind. Kultur hat daher wenig zwingende Macht. An ihr wird in Krisenzeiten zuerst gespart. Für allzuviele Menschen bleibt sie leider eine Randerscheinung ihres Lebens, eine Schönheit, die im Verborgenen blüht.

…vor allem die freischaffenden, nicht in Institutionen eingebundenen Künstler und Ensembles leiden Not.

Das zeigt sich auch in der Corona-Krise, oft auf bedrückende Art. Nicht nur, dass Konzertsäle, Theater, Lesungsräume, Kinos nur zu einem Bruchteil besetzt werden, dass kleineren Einrichtungen der Untergang droht – vor allem die freischaffenden, nicht in Institutionen eingebundenen Künstler und Ensembles leiden Not. Viele Einzelne stehen vor einer Berufskrise, ja einer Lebenskrise. So droht verloren zu gehen, was bildende und darstellende Kunst, Poesie und Musik gerade für Bayern bedeuten: nicht etwa eine belanglose Zugabe, auf die man notfalls auch verzichten könnte, sondern ein wichtiger – auch wirtschaftlich wichtiger – Kern, ein Markenzeichen in der Öffentlichkeit. Beim Schlagwort Bayern denkt man ja nicht nur an den FC Bayern oder an das bayerische Reinheitsgebot oder an BMW und Audi, an die Zugspitze und den Königssee – auch die Kunst ist wichtig, sie ist beispielgebend für ganz Bayern, sie hebt das Land hervor und lässt es leuchten. Bayern ist ein Kulturstaat, so lesen wir in Artikel 3 unserer Verfassung. Dort steht auch, dass der Staat „die kulturelle Überlieferung“ schützt – ein verpflichtender Satz, der gerade jetzt allen Politikern in den Ohren klingen muss. 

Was kann man tun, wie kann man weiterkommen?

Demonstrieren, wie wir es heute am Königsplatz tun, ist wichtig – und ich kann als bayerischer Kulturbürger in schon fortgeschrittenem Alter Frau Stross und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihre Initiative nur meinen lebhaften Dank aussprechen. Aber ein zweiter Schritt sollte folgen: die Kulturschaffenden sollten sich organisieren – natürlich in einer der Kultur und ihrer Vielfalt angemessenen Weise. Nur in dieser Form, nämlich organisiert, werden sie auch in der Öffentlichkeit so wahrgenommen, wie sie es verdienen. Man mag sich darüber ärgern, aber es ist nun einmal so: Was in einer Demokratie nicht organisiert ist, das ist nicht. 

Was können Kulturschaffende und ihr Publikum von der Politik erwarten?

Was können sie von ihr verlangen? Zumindest eines: dass öffentliche Verhaltensregeln stabil und verlässlich bleiben und nicht dauernd schwanken – und dass sie bundesweit annähernd einheitlich gehandhabt werden. Föderalismus ist gut, er wird auch mit einer Pandemie besser fertig als ein zentralistisches Regime – das zeigt der Vergleich mit Frankreich. Aber Föderalismus muss immer wieder koordiniert werden: nicht umsonst gibt es ja als ständige Einrichtungen Kultusministerkonferenzen, Innenministerkonferenzen, Finanzministerkonferenzen – und es treffen sich regelmäßig alle Beteiligten bei der Bundeskanzlerin, wobei manchmal sogar gemeinsame Beschlüsse herauskommen. 

Ebenso sollte in dieser kritischen Lage zwischen Politik und Kultur ein wenig Empathie, ein wenig wechselseitiges Verständnis entstehen. Nicht nur in Wirtschaft, Verkehr, Tourismus, Gesundheitswesen, Virologie muss die Politik sich heute einfühlen, meine ich, sondern auch in die Künste. Das ist schwierig, zugegeben. Wenn ein Kultusminister eine Schule besucht, ein Wissenschaftsminister eine Hochschule, so besuchen sie symbolisch alle Schulen, alle Hochschulen des Landes. Der Besuch eines Ateliers, eines Musikensembles, einer Lesung hat nicht die gleiche verbindende Kraft. Oder vielleicht doch? Ich meine, in Pandemie-Zeiten müssten auch die Künstler mehr zusammenrücken. Was sie alle verbindet – trotz legitimer Konkurrenz -, das müsste deutlicher sichtbar werden als bisher. 

Ist die Kultur „systemrelevant“?

Zuletzt: Ist die Kultur „systemrelevant“? Kommt man ohne sie nicht durch die Krise? Nun, das physische Überleben können die Künste gewiss nicht sichern. Da hält man sich besser an die Medizin. Aber die Künste gehören zu einem menschenwürdigen Leben. Ohne sie erfassen wir das Leben nicht, schöpfen es nicht aus – wir leben nicht, wir sind in Gefahr, nur noch dahinzukümmern, zu vegetieren.

 So wollen wir uns also gemeinsam für ein menschenwürdiges Leben einsetzen, hier und heute, auch in Corona-Zeiten: ein menschenwürdiges Leben für die Künstler, für das Publikum, für uns alle! 

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