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Athen verstehen: Geschichte. Krise. Das neue „Berlin“?

Parthenon of Books1

documenta 14, die weltweit bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst des Jahres 2017, wird unter dem Motto „Von Athen lernen“ veranstaltet. Vom 8.4. bis 16.7.2017 kann man sich mit den Werken internationaler Künstler in Athen und vom 10.6 bis 17.9.2017 in Kassel auseinandersetzen. Das erste Kunstwerk entsteht bereits in Kassel: Der „Parthenon der Bücher“, für den die argentinische Künstlerin Marta Minujin weltweit unter Diktaturen verbotene Bücher sammelt. Das Motto der documenta-Ausstellungen hat die Evangelische Stadtakademie ernst genommen und veranstaltet zusammen mit anderen Kooperationspartnern eine Reihe, in der geladene Experten der Frage nachgehen: Was können wir, sollen wir, wollen wir von Athen lernen?

Wer von Athen lernen will, muss griechische Politik verstehen

Wer von Athen lernen will, muss Athen verstehen: die Geschichte seit dem osmanischen Reich, Militärdiktatur und Argwohn gegen den Staat, das Entstehen der Krise und den gesellschaftlichen Umgang damit.
Dazu äußerten sich am 21.02 Georgios Pappas, Deutschlandkorrespondent des Griechischen Rundfunks ERT/TA NEA in Berlin und Giorgos Christides, Korrespondent des SPIEGEL aus Thessaloniki. Wie sehr das Thema Griechenland und seine anhaltende Krise auch hierzulande die Menschen bewegt, vernahm man schon während der kurzen Impulsvorträge der beiden Referenten als ein häufiges Raunen durch Reihen ging und erst recht dann in der lebhaften Diskussionsrunde. Eins wurde klar: Es ist eben nicht irgendein Land, das sich nun seit 7 Jahren in der Krise befindet, es ist ein Land, das für die europäische Kultur, zu der sich die Deutschen nun mal zugehörig empfinden, immens wichtig ist. Die beiden Referenten waren sich einig: die Beurteilung der aktuellen Situation in Griechenland muss mit tieferem Verständnis der politischen Geschichte Griechenlands einhergehen, um nicht in Klischees von „faulen Griechen“ stecken zu bleiben. Umso bedeutender schien es zu sein, dass hier zwei Griechen auf dem Podium ihre Sicht der Verhältnisse vermittelten.

„Die Junta endete nicht 1973!“ (Der Slogan der populistischen Linken)

Georgios Pappas warnte davor, dass die documenta 14 in die innergriechischen Politik-Kämpfe hineingezogen wird. Nachdrücklich wies er auf die Gefahr einer parteipolitischen Vermarktung der Krise mit dem Versuch die Geschichte des Landes aus einem bestimmten politischen Blickwinkel zu erzählen, hin. Das bereits laufende Vorprogramm (public programs) sei von einer ausgeprägt linkspopulistischen Tendenz. Wütend machen ihn Parolen wie „Die Junta endete nicht 1973“, die implizieren, dass der Übergang zur Demokratie scheiterte und zum Neoliberalismus führte. Das aber sei eine Diskreditierung des politischen und sozialen Wandels Griechenlands nach dem Ende der Diktatur bis heute. Es unterstellt Griechenland einen permanenten Opfer-Status und verneint alle positiven demokratischen Entwicklungen, die seit dem Niedergang der Militärdiktatur von statten gegangen sind.

Er unterstrich, dass die aktuelle Krise für die Menschen eine Katastrophe sei, dass die meisten am Rande ihrer Existenz angelangt sind, weil die Steuerlast unerträglich ist. Die Folge ist, dass das Land demographisch schrumpft: „Das wird in einer sozialen und politischen Katastrophe enden“, so Pappas.

Außerdem zeigte er, wie tief die antiwestliche Aversion in der populistischen Linken verwurzelt ist. In der aktuellen Schuldenkrise wurde der alte ausgeprägte Antiamerikanismus durch den Antigermanismus ersetzt. Beides sei Ausdruck einer festsitzenden antiwestlichen Haltung: früher kämpfte man gegen den amerikanischen Imperialismus, heute gegen die Hegemonie Deutschlands in Europa, gegen das „Deutschen-Europa“. Die Allianz der politisch antiwestlich eingestellten Kräfte mit der mächtigen orthodoxen Kirche befördert eine Orientierung in Richtung Russlands und eine Abwendung von Westeuropa.

Wer von Athen lernen will, muss griechische Geschichte verstehen

Giorgos Christides, der seit 5 Jahren für den Spiegel arbeitet, machte deutlich, dass Griechenland und Deutschland in der Presse nur sehr stereotypisierte Wahrnehmungen voneinander vermittelt bekommen. Griechenland, das auf Grund seiner langen Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich weder so etwas wie eine Epoche der Renaissance mit dem Erstarken des Bürgertums noch die Aufklärung durchlief, sei ein sehr andersartiges Land als die meisten westeuropäischen Länder. Als es Nationalstaat wurde, war es ein reines Agrarland mit weitgehend analphabetischer Bevölkerung. Die Strukturreformen, die von der EU forciert werden, werden erneut als eine Art der Fremdherrschaft wahrgenommen, gegen die man sich wehren muss.
Christides schilderte drastisch die katastrophale finanzielle Lage der meisten griechischen Bürger. Es sei für Griechenland nicht möglich, die geforderten Zahlungen zu meistern, weil sie auf keiner realistischen Einschätzung der griechischen Wirtschaftsleistung basierten. Das weiß auch der IWF, der seinerzeit diese Einschätzung wieder auf Druck der europäischen Länder zurückzog. Man kann nicht von unterschiedlichen Ländern die gleiche Leistung verlangen. Zahlungen der EU müssten an effektive Veränderungen in der Wirtschaftsweise gebunden werden, und um die Wirtschaft in Gang zu bringen, brauche es Investitionen. Christides plädierte auf lange Sicht für ein dem deutschen Länderfinanzausgleich ähnliches Modell zwischen allen EU-Mitgliedstaaten.

Kunst ist auf der Straße zu finden

Die Kunst wird in Athen von renommierten und unbekannten Künstlern in die Straßen hineingeschrieben. Eindrucksvolle Graffiti auf den Wänden der Athener Gebäude, die Giorgos Christides dem Publikum präsentierte, lassen sich oft politisch lesen. Der Kuss zwischen Tsipras und Merkel, der sich auf den zweiten Blick als vergiftet erkennen lässt. Ein junger Grieche, der zwischen dem übermächtigen antiken Erbe und einer hoffnungslosen Zukunft eingequetscht wird. Die Graffitis sind frei zugänglich, denn sie sind ein Teil von Athen. Die Kunst gehört der Straße und so ist es auch die Hoffnung der beiden Referenten, dass die Kunstliebhaber nicht nur als oberflächliche Touristen Ausstellungen konsumieren, sondern Athen auch durch seine Straßenkunst besser verstehen.

documenta 14

Was der Kurator der documenta 14, Adam Szymczyk, genau von Athen lernen will, kann er noch nicht sagen. Er wird es, so auf einer Pressekonferenz, nach der Ausstellung wissen. Was sich heute aber abzeichnet ist, dass es stark um Politik und Geschichte gehen wird. Und dass alle Künstler sowohl in Athen als auch in Kassel mit Arbeiten vertreten sein sollen. Für die Teilnehmer der Veranstaltungsreihe realisiert sich das Motto jedenfalls bereits: Sie werden informierter und sensibler auf Athen schauen. Die Wahrnehmung differenziert sich. Und die Neugier, sich wirklich anzuschauen, was in Athen passiert, wächst. Es könnte ein anderer Tourismus wachsen als der, der von der Akropolis zu den Griechischen Inseln springt.

Bild © Marta Minujín, El Partenón de libros (Der Parthenon der Bücher, 1983), Installation, Avenida 9 de Julio, Buenos Aires, Foto: Marta Minujín Archive

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