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Grundregeln der Zivilisation. Oder: Was uns glücklich macht

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Predigt von Jutta Höcht-Stöhr am 15.9.2019 in St. Matthäus

Im Urlaub habe ich ein Buch zur Glücksforschung gelesen. Die Frage, wie es gelingen kann, glücklich und zufrieden zu leben, beschäftigt viele Menschen heute. Entsprechend groß ist der Buchmarkt dazu. Was ich in diesem Buch gefunden habe, macht schon beim Lesen glücklich. Zum Beispiel die Einsicht der Psychologie, dass bestimmte Tugenden unser Wohlbefinden und Glück steigern. Geistige Tugenden wie Kreativität und Neugier, Aufgeschlossenheit und Freude am Lernen. Oder Menschlichkeit – dazu zählen Freundlichkeit, soziale Intelligenz und die Fähigkeit zu lieben. Gerechtigkeit ist so eine Tugend – also soziale Verantwortung und Fairness. Auch in Mäßigung leben zu können. Dazu gehört vergeben können und Mitleid empfinden zu können, Demut und Bescheidenheit. Und schließlich spirituelle Tugenden: Wertschätzung von Schönheit in der Natur oder der Kultur, Dankbarkeit und Humor.

Kurz zusammengefasst könnte man sagen: Unser Glück ist nicht egoistisch zu gewinnen. Es entsteht, indem wir uns weit öffnen. Und indem wir etwas für andere tun, wächst unser eigenes Glück mit. Z.B. sind wir glücklicher, wenn wir für andere ein schönes Geschenk gefunden haben, als wenn wir uns selbst etwas gekauft haben. All das sind nicht moralische Forderungen, sondern Beschreibungen, wie unsere Psyche funktioniert. Und das ist doch eine gute Nachricht.

Ein Lehrstück in Sachen Glück

Ein Lehrstück in Sachen Glück ist deshalb auch unser heutiger Predigttext. Er stammt aus dem 3. Buch Mose und beschreibt, wie das Volk Israel leben soll, um glücklich zu werden. Der Text gebraucht zwar nicht dieses Wort. Er spricht vielmehr von der Heiligung des Lebens. Aber das Wort heilig hat für uns einen eher ambivalenten Klang. Es klingt oft so sehr nach Selbstaufopferung und die meisten Heiligen, die es zur Ehre der Altäre geschafft haben, sind als Märtyrer gestorben. Genau dies meint unser Text nicht, wenn er entfaltet, was zur Heiligung führt. Diese Art Heiligung trägt zu unserem Glück bei. Hören Sie aus 3. Mose 19, aus den Geboten zum Bundesschluss zwischen Gott und Israel am Sinai:

1 Und der HERR redete mit Mose und sprach: 2 Rede mit der ganzen Gemeinde der Israeliten und sprich zu ihnen: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der HERR, euer Gott.

3 Ein jeder ehre seine Mutter und seinen Vater. Haltet meine Feiertage; ich bin der HERR, euer Gott.

4 Ihr sollt euch nicht zu den Götzen wenden und sollt euch keine gegossenen Götter machen; ich bin der HERR, euer Gott.

13 Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken noch berauben. Es soll des Tagelöhners Lohn nicht bei dir bleiben bis zum Morgen. 14 Du sollst dem Tauben nicht fluchen und sollst vor den Blinden kein Hindernis legen, denn du sollst dich vor deinem Gott fürchten; ich bin der HERR.

15 Du sollst nicht unrecht handeln im Gericht: Du sollst den Geringen nicht vorziehen, aber auch den Großen nicht begünstigen, sondern du sollst deinen Nächsten recht richten.

16 Du sollst nicht als Verleumder umhergehen unter deinem Volk. Du sollst auch nicht auftreten gegen deines Nächsten Leben; ich bin der HERR. 17 Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst freimütig deinen Nächsten zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst.

18 Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR.

33 Wenn ein Fremder bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken.

34 Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremde gewesen in Ägypten. Ich bin der HERR, euer Gott.

Liebe Gemeinde, das klingt über weite Teile wie die Zehn Gebote. Aber dazwischen kommen einige originelle und sehr anschauliche Formulierungen und einige wichtige Begründungen. Und auf die soll es heute ankommen. Diese Gebote beschreiben, auf welcher Basis das Zusammenleben des Volkes gelingen kann. Sie sind Teil unserer Glaubenstradition.

Schwachstellen nicht ausnutzen

Zuerst geht es um die Tugenden sozialer Verantwortung. Es geht darum, den Nächsten nicht zu bedrücken und Schwächen anderer Menschen nicht auszunutzen: Sehr anschaulich ist das Bild, dass man vor einem Blinden kein Hindernis platzieren soll, und dass man einen Tauben, nicht verfluchen soll. Sie könnten sich weder schützen noch wehren. Es gehört aber auch dazu, den Lohn eines Tagelöhners nicht über Nacht zu behalten, sondern wirklich am selben Tag auszuzahlen. Denn er hat keine Rücklagen. Er ist darauf angewiesen. Seine Notlage darf man auf keinen Fall auch noch ausnutzen.

Tagelöhner gab es bei uns lange nicht mehr. Aber es gibt sie wieder, gleich in unserer Nachbarschaft. Menschen aus Bulgarien und Rumänien, die als EU Bürger hier sind und versuchen, ihr Leben wenigstens etwas zu verbessern. Das südliche Bahnhofsviertel, Landwehr- und Schillerstraße sind der Ort, wo sie stehen und warten, ob sie einer heute braucht. Sicherheit gibt es in einem solchen Job nicht und wählerisch darf man auch nicht sein. Umso schlimmer, wenn eine solch prekäre Notlage ausgenutzt wird von Arbeitgebern, die damit ein Schnäppchen machen wollen und den Lohn nicht zahlen.

Wo Menschen besonders schwach sind, ist es besonders perfide, ihre Notlage willentlich auszunutzen. Eine ausführliche Begründung braucht es für diese Gebote gar nicht, sie leuchten unmittelbar ein. Es gibt aber eine Bekräftigung: „denn ich bin der Herr, euer Gott“. Gott ist der Garant des Schutzes für die Schwachen. Treten Götzen an die Stelle Gottes, kann das alles anders aussehen. So ist die Maxime, überall die größtmögliche Rendite herauszuholen, zu einer Leitfigur unserer Tage geworden, die zum Teil Götzenqualität angenommen hat. Und ihre Opfer sind die Schwächsten der Gesellschaft aber auch die Gesellschaft als Ganze.

Die Wohltat des Rechtsstaats

Im zweiten Teil geht es um die Tugend der Gerechtigkeit. Damit nicht das Recht des Stärkeren siegt, legt diese Gebotsreihe großen Wert auf Gerechtigkeit und gerechte Gerichte. Das Recht und seine Durchsetzung durch unabhängige Gerichte gehören zu den größten zivilisatorischen Errungenschaften überhaupt. Dass wir in einem Rechtsstaat leben, ist eine Wohltat, die wir gar nicht hoch genug schätzen können. Es bedeutet eine grundlegende Sicherheit für uns alle. Manchmal halten wir das für selbstverständlich und gesichert, aber das ist es nicht.

In diesem Jahr gedenken wir des Beginns des 2. Weltkriegs und der Unrechtsherrschaft jener Zeit im Nationalsozialismus und im Stalinismus, wo viele Menschen schutzlos wurden, weil es keine gerechten Gerichte gab. Ein Blick in die Türkei oder nach Russland und China heute zeigen, wie wichtig und wie schwer es ist, rechtzeitig für den Rechtsstaat einzutreten. In Polen und Ungarn kämpfen heute Demokraten darum. Und selbst in Großbritannien muss das Parlament zur Zeit vor Gericht für die Wahrung seiner Rechte durch die Regierung streiten.

Vor Gericht darf weder der Geringe vorgezogen, noch der Große begünstigt werden. Das Recht ist nur das Recht, wenn es verlässlich und für alle gleichermaßen gilt. Darauf muss sich jeder verlassen können: Auch der Manager darf vor Gericht nicht diskriminiert werden, weil wir ihn vielleicht moralisch verurteilen. Und der Geringe muss dieselbe Sorgfalt erfahren wie ein Einflussreicher. Das gibt Rechtssicherheit und sie ist eines der höchsten Güter in unserer religiösen Tradition.

Du sollst den Fremden lieben wie dich selbst

Das dritte Thema nach dem Gebot, die Schwächen von Menschen nicht auszunützen, und nach dem Gebot gerechter Gerichte, ist deUmgang mit dem Nächsten und dem Fremden.

Ganz aktuell ist das Gebot, dass wir nicht als Verleumder umhergehen sollen in unserem Volk, dass wir nicht dem Zorn und dem Hass Raum geben, weil sie das gesellschaftliche Klima vergiften. Im Zeichen der Sozialen Medien und Populismus können wir heute ein Lied davon singen. Die Hemmschwelle, andere niederzumachen, ist in den letzten Jahren immer weiter gesunken. Der Ton ist zum Teil menschenverachtend geworden. Die Geister, die da gerufen wurden, sind nur schwer wieder einzufangen.

Stattdessen, so das biblische Gebot, sollen wir jemanden freimütig und direkt ansprechen, wenn wir denken, dass er in die Irre geht, weil wir sonst an ihm schuldig werden. Das bedeutet Zivilcourage. Verleumdung und Hetze aber dürfen keinen Raum haben.

All das wird zusammengefasst im zentralen Gebot der Nächstenliebe: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Das gilt übrigens auch für die, die wir unmöglich finden. Die ihrerseits hetzen oder ihrer Wut Raum geben – meist gegen Fremde. Was kann hier Nächstenliebe heißen? Vielleicht zu verstehen versuchen, was sie dahin gebracht hat, so zu agitieren? Und zugleich freimütig sagen, dass wir das Verhalten dennoch niemals akzeptieren.

Auch deshalb nicht, weil bereits das Alte Testament an dieser Stelle das Gebot der Nächstenliebe entscheidend erweitert hat: Wenn ein Fremder bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremde gewesen in Ägypten.“

Das Liebesgebot wird über den Nächsten im eigenen Volk hinaus ausgedehnt auf den Fremden im Land – und zwar ohne Unterschied. Von ihm gilt dasselbe wie für die eigenen Volksgenossen: Du sollst ihn lieben wie dich selbst. Es ist übrigens das einzige Gebot in der ganzen Reihe, für das eine extra Begründung angefügt ist: die Erinnerung an die eigene Geschichte Israels. Denn Israel hat die Erfahrung des Fremdseins am eigenen Leib erfahren in Ägypten. Es weiß doch, wie es sich anfühlt. Und die Botschaft an uns ist: Fremdsein kann jeden treffen. Wer weiß denn, wie unsere eigene Geschichte weitergeht. Der Fremde ist nicht der ganz andere. Er ist nur eine andere Möglichkeit unseres eigenen Menschseins.

Ein großer Sprung in der Zivilisationsgeschichte der Menschheit

Ich weiß nicht, ob Ihnen diese Gebote und ihr Ton, in dem sie gesagt sind, auch so gut tun, wie mir. Am auffälligsten ist, wie undramatisch sie daherkommen. Kein Eifer liegt in ihnen. Keine Polemik, sondern eine große Bemühung um Ausgewogenheit. Das tut gut in unserer Zeit.

Mit diesen Geboten ist ein großer Sprung in der Zivilisationsgeschichte der Menschheit gemacht. Das Zusammenleben wird auf ethische Prinzipien gestellt, die für alle gelten, nicht nur für die eigenen Volksgenossen. Es ist eine universale Ethik, die hier formuliert ist, längst vor der Aufklärung, die das für uns zum Standard gemacht hat. Es geht darum, ein Maß zu finden des guten Umgangs miteinander. Mit den Nächsten wie mit den Fremden. Ganz sicher müssen wir, um die Fremden lieben zu können wie uns, sehr viel mehr von ihnen wissen. Sonst bleibt es eine abstrakte Forderung.

Am kommenden Dienstag wollen wir etwas davon versuchen hier in St. Matthäus. Ich habe schon gesagt, dass seit einigen Jahren Migranten und Migrantinnen aus Rumänien und Bulgarien hierherkommen, um als Tagelöhner zu arbeiten oder auch zu betteln, weil sie sich hier ein besseres Leben erhoffen als in ihren Herkunftsländern. Sie sind EU Bürger, also legal hier. Sie sind rund um die Kirche und im Bahnhofsviertel zu finden. Wir können uns sprachlich nicht verständigen, es gibt keine gemeinsame Sprache zwischen uns. Ihre Welt ist uns fremd. Und wir sehen Menschen, die in der Sonnenstraße schlafen, aber verstehen kaum etwas von ihrer Lage. Darum haben wir sie gebeten, Fotos von ihrer Situation und ihrem Blick auf München zu machen. Wir werden diese Fotos am kommenden Dienstag um 17.30 Uhr hier in Matthäus zeigen. Und wir werden mit Dolmetschern versuchen, mit den Menschen selbst ins Gespräch zu kommen. Kommen Sie doch, wenn Sie Zeit haben. In den Flyern auf den Bänken finden Sie mehr dazu.

Ethik ohne Gott?

Eines aber beschäftigt mich noch im Blick auf unseren Predigttext. Die Begründung, warum wir zu diesem menschlichen Zusammenleben finden sollen, ist in den Geboten schlicht und einfach die Ehrfurcht vor Gott. Neunmal kommt in diesen wenigen Versen diese Begründung vor: „Denn ich bin der Herr, euer Gott.“ Für die, die ihr Leben vor Gott sehen, für die, die hier Weisheit und Gerechtigkeit, Gnade und Erbarmen finden, sind diese Gebote Teil ihrer Glaubenstradition.

Was aber ist mit den anderen? Mit denen, die diesen Glauben nicht teilen? Was ist, wenn Gott fehlt?

Einen Großteil der Begründung kann sicher die Vernunft leisten. So fordert Immanuel Kant: „Handle stets so, dass dein Verhalten die Maxime für eine allgemeine Gesetzgebung werden könnte“. Es ist der kategorische Imperativ schlechthin. Einfacher formuliert es die Goldene Regel, die auch in den Evangelien steht: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten, sagt Jesus (Matthäus 7,12). Mit diesen beiden Regeln käme man zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie die biblischen Gebote der Humanität, die uns überliefert sind.

Einen Teil der Begründung kann vielleicht auch, etwas emotionaler, die Glücksforschung beitragen mit ihrer Einsicht, dass ein soziales und mitfühlendes Verhalten Grundlage unseres Glücks ist. Großzügig zu sein, tut uns selbst gut. Ein weites Herz macht uns glücklicher und – fragen Sie Ihren Kardiologen – auch gesünder. Heiligung und Glück gehen hier zusammen. Das kann ein Grund sein, sozial zu leben.

Liebe Gemeinde, wir leben in Zeiten, in denen sich die humanen Gebote nicht mehr von selbst verstehen. Populismen aller Art sprechen heute eine andere Sprache. Hetz- und Hassreden gewinnen unter uns eine unheilvolle Kraft. Eigeninteressen werden polemisch an erste Stelle gesetzt. Und der Kampf aller gegen alle wird international wieder denkmöglich gemacht. Es scheint, als hätte das Erschrecken, das einst der Nationalsozialismus ausgelöst hat, seine Kraft verloren. So, wenn Alexander Gauland davon spricht, er sei ein „Vogelschiss“ in der deutschen Gesichte gewesen. Das war er nicht und wird es nie sein. Er hat vielmehr die Abgründe gezeigt, zu denen Menschen fähig sind.

In unseren erregten Zeiten aber können Texte wie der heutige Predigttext eine Basis des Zusammenlebens zurückbringen, ruhig und unaufgeregt, aber klug und mit umfassender Weisheit. Für diese Tradition bin ich tief dankbar.

 

Anmerkung:

Das erwähnte Buch zur Glücksforschung ist „DAS GLÜCK WOHNT NEBEN DEM GROSSHIRN. Wie der Kopf unsere Gefühle steuert.“ von Jeanne Rubner und Peter Falkai. Die Buchvorstellung findet am 14.10 um 19.30 in der Stadtakademie statt. https://www.stadtakademie-muenchen.de/veranstaltung/das-glueck-wohnt-neben-dem-grosshirn/

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